Aus dem Nichts ins Krankenhaus. Wenn das Leben die Pausetaste drückt.

1. Tatort OP-Tisch

„Herr Rath?“

„Ja?“

„Der Doktor müsste gleich da sein. Einen Moment noch bitte.“

„Ok.“

Ich atme tief ein und aus. Es ist einer dieser grauen Januardienstage. Ich liege im Operationssaal der Universitätsmedizin Rostock und friere etwas vor mich hin. Es wird wohl an diesem unangenehm frostigen Klima liegen, das nur in Krankenhäusern herrscht. Obwohl Kälte mich ja sonst kalt lässt. Es könnte aber auch daran liegen, dass man mir dieses besondere „OP-Jersey“ zur Verfügung gestellt hat, das nicht wirklich wärmt, da der Rücken quasi immer frei ist.

But wait, ich habe es gar nicht mehr an. Man hat es mir wohl eben ausgezogen. Ich erinnere mich nur noch bruchstückhaft, denn die erste Dröhnung kickt langsam rein.

Hier liege ich nun also, warte darauf, langsam in den Schlaf zu sinken und währenddessen aufgeschnitten zu werden. Angst habe ich nicht, aber ich frage mich, wie die nächsten Tage aussehen werden. Wie stark werden die Schmerzen sein? Wie schnell kann ich wieder nach Hause? Und wie zum Geier regelt meine Frau unseren Umzug morgen ohne mich. Verdammt. Ich kann gerade nichts tun. Ich muss darauf vertrauen, dass alles irgendwie klappt. Augen zu und durch.

Aber noch ist nichts mit Augen zu. Noch muss ich warten. Bis es hier endlich mal losgeht.

„Ich geh noch mal eben schauen nach den Ärzten“,

meint die Schwester.

„Wo stecken die denn? Müssten eigentlich längst hier sein. Seltsam.“

Einserseits wird mir gerade alles egal. Andererseits nervt die Warterei auf dieser steinharten OP-Liege, die mir in den nächsten Tagen noch mit aggressiven Rückenschmerzen im Gedächtnis bleiben wird.

Nach keiner Ahnung wie vielen Minuten kommt sie wieder.

Die sind noch auf einer Fortbildung.“

„Forbillung?“

nuschele ich bemüht und spürbar angeschallert durch meine Maske.

Ja, das machen wir hier immer direkt im Haus. Ist halt Uniklinik“,

versucht mich die Schwester zu beruhigen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann ist ein Patient, der sich unnötigt aufregt.

Alles gut Herr Rath. Geht gleich los.“

Ich schaue, auf dem Rücken liegend, nach oben an die Decke. Der Himmel des Operationssaals ist leider nicht blau. Alles erinnert an einen Maschinenraum. Hier muss schließlich nichts feng shuimäßig abgefedert werden. Hier soll sich gar keiner wie zu Hause fühlen. Hier wird repariert, geschraubt, ausgebaut und angelötet. Wie in einer großen Werkstatt. Ich drifte langsam ab. Aber wohin eigentlich?

Hoffentlich wirkt die Narkose auch richtig. Man hört ja manchmal so Geschichten von Überlebenden, die zitternd davon berichten, wie sie die ersten Minuten der Operation noch miterlebten, was wiederrum die Ärzte nicht mitbekamen.

Natürlich nicht.

Aber die checken das doch nochmal oder? Kann doch eigentlich gar nicht passieren heute im digitalen Zeitalter. Da schaut dann bestimmt jemand während der OP auf sein iPad und checkt das Narkose-Dashboard von Herrn Rath.

So stell ich es mir jedenfalls vor.

Mit einmal platzt der Arzt rein und fährt mich viel zu laut von der Seite an.

„NA HERR RATH, DANN WOLLEN WIR MAL!“

Ja? Wollen wir? Ich weiß gar nicht. Und überhaupt, warum schreit der denn so? Der Typ sollte sich erstmal mal entschuldigen. Ich liege hier schon seit Stunden. Eine Minute im OP vergeht nämlich in dieser speziellen Raum-Zeit-Konstellation so langsam wie eine Stunde außerhalb dieser Mauern.

Er beugt sich über mich.

„IRGENDWELCHE ALLERGIEN?“

Ja, gegen schreiende Chirurgen, die zu spät kommen.

Zum 856. Mal beantworte ich die Frage an diesem Tag mit einem gereizten:

„Immernoch nicht!“

„Und was machense beruflich?“

Auch das noch. Aber na klar, reden wir doch über Arbeit. Am besten noch über New Work. Und selbst wenn ich jetzt anfange mit „Referent für Organisationsentwicklung beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband“ bringt uns das hier keinen Centimeter weiter.

Kommunikassion bei der Spaaarkasse“,

versuche ich halbwegs verständlich rauszubringen, während dieser seltsame Halbgott in Weiß mir bereits unauffälig das richtig gute Zeug in die Venen knallt.

Jetzt kommt langsam Bewegung in die Sache. Alles beginnt sich zu drehen. Wie in einem Flugsimulator. Oder diesem schrecklichen Fahrgeschäft des Todes auf dem Weihnachtsmarkt, in das K1, mittlerweile auch schon 13 Jahre alt, unbedingt mit mir gehen wollte. Doch ich blieb stark und weigerte mich. Früher liebte ich das, heute ist es das Schlimmste. Einfach Generation 40+. Wenn ich mit meinen Kindern auf den Spielplatz gehe kann ich auch nicht mehr der entspannte Spielkumpane sein. Schon Schaukeln ist da schwierig. Ich vermute, das träge Home Office ist Schuld. Ich kann einfach nichts mehr ab.

Aber heute komme ich aus dieser Nummer leider nicht mehr raus. Die Dröhnung übernimmt nun endgültig. Sekunde für Sekunde werde ich schwächer. Gleich fade ich raus wie ein schlechter Song im DJ-Mix. Wir sehen uns auf der anderen Seite.

Mein letzter Gedanke:

„Relax! Die können das hier. Alles Experten. Die machen den ganzen Tag nix Anderes. Werden sich nachher alle ansehen und sagen:

Hauptsache, ich wache nicht auf und erfühle mit meinen Händen einen künstlichen Darmausgang auf meinem Bauch. Alles. Nur bitte das nicht.“

2. Rückblende

Wir schreiben den 31. Dezember 2022. Mit unseren drei Töchtern lassen wir so richtig die Korken knallen und stellen die leeren Robby Bubble-Flaschen einen Tag später brav zum Altglas.

Ich bin gespannt auf das neue Jahr, das uns gleich zu Beginn richtig fordern wird, denn es steht ein großer Familienumzug an. Mir geht es wie 99 % der aktuellen Weltbevölkerung: Ich hasse Umzüge. Schon die Vorstellung davon, alle Sachen in Pappkartons einzupacken, Schränke ab- und später wieder aufzubauen, an hunderten Stellen die Adresse zu ändern und den Spaß mit drei Kindern durchzupeitschen, lässt meine grauen Schläfen expandieren.

Nach drei zermürbenden Jahren, in denen wir krampfhaft nach einer größeren Wohnung suchten, abwechselnd hofften und resignierten, uns stritten und versöhnten, konnten wir tatsächlich einen Mietvertrag für eine großzügige 5-Raum-Wohnung im Herzen Rostocks unterschrieben. Ganz klar ein Geschenk des Himmels.

Am 25. Januar, 4 Tage nach dem 4. Geburtstag unserer jüngsten Tochter, soll es rüber gehen in die neue Wohnung. Das wird ein verdammt anstrengender Monat, denke ich mir, und kann noch nicht mal im Ansatz ahnen, wie krass es am Ende wirklich sein wird.

Traditionell starte ich alkohol- und fleischfrei in das neue Jahr und lege am Montag, den 2., wieder mit der Arbeit los. Ich fühl` mich gut, habe Bock. Freue mich auf mein kleines, neues Büro in der neuen Wohnung. Bisher saß ich mal in der Küche, mal im Kinderzimmer und mal an einem kleinen Sekretär in der hinteren Ecke des Wohnzimmers. Das führte natürlich regelmäßig zu Spannungen. Hashtag #Kinder. Hashtag #Netflix. Hashtag #PapabrauchtaberRuhe.

Dann beginnt dieser Mittwoch, der 4. Januar. Ich fühle mich irgendwie … seltsam. Mein Bauch beginnt unangenehm zu krampfen. Kenne ich eigentlich nicht von mir. Im Laufe des Vormittags wird mir erst schweinekalt, dann extrem heiß und dann auch noch kotzübel. Es geht nicht anders, ich muss mich hinlegen. Die Schmerzen werden immer stärker. Mein ganzer Unterbauch bläht sich auf und wird steinhart. Aber unter der festen Decke rumort etwas. Bestimmt hab` ich etwas Schlechtes gegessen.

Also versuche ich zu pennen, aber komme einfach nicht zur Ruhe. Gekrümmt liege ich auf der Seite, während ein fieses Fieber in mir erwacht und Minute für Minute stärker wird. Meine Frau kommt am späten Nachmittag nach Hause.

„Was ist denn mit dir los?“

„Du, mir geht´s nicht so gut.“

Ich habe fast 40 Fieber und fühle mich wie der Typ in diesem ´79er Science Fiction Schocker, aus dessen Bauch mit einmal ein fies grinsendes Alien platzt.

Es klingelt. Das muss der Notdienst sein.

Zwei Sanitäter betreten die Szenerie, murmeln routiniert und vor allem gleichzeitig ein „Nabend“ und stellen einen überdimensional großen Medizinkoffer auf den Tisch. Warum schleppen die so´n Riesending hier her? Was ist da drin? Wollt ihr mich gleich hier vor Ort operieren?

Die beiden interviewen mich, schauen sich dabei immer wieder an und mutmaßen ins Blaue.

„Sieht nach Blinddarm aus.“

„Jo“,

meint Sani 2 nickend und und wiederholt.

„Sieht nach Blinddarm aus.“

Sekunden später rammt Sani 1 mir mit Schmackes eine Kanüle unter die Haut meiner linken Handoberfläche. Das haut richtig rein. Der Schmerz zieht einmal runter bis in die Kniekehle.

„So Herr Rath, dann nehmen wir Sie mal mit. Könnse die Treppen runter laufen?“

„Schwierig.“

„Gut. Dann legen sich mal auf die Trage.“

Ehe ich mich versehe liege ich im Krankenwagen, festgegurtet wie ein Gefangener.

„Wo wollense hin?“

fragt Sani 1 mich.

Ich verstehe die Frage nicht. Am liebsten wieder nach Hause.

„Uniklinik oder Südstadt?“

Ich habe da gerade echt keine Meinung zu und ich bin auch kein Verfechter dieser Pauschalurteile über Krankenhäuser. Ich denke mir, es kommt immer drauf an, bei wem man am Ende landet. Ich entscheide mich für die Uniklinik, die gerade einen neugebauten Teil ihres Gebäudes eröffnet hat. Die Südstadt-Klinik wiederrum kenne ich vor allem als Vater. Dort wurden K2 und K3 geboren. Belassen wir es doch bei diesen Erinnerungen.

Sani 2 rumpelt gefühllos über jedes Kopfsteinpflaster, das er im nächtlichen Rostock finden kann. Ich liege tief im Korpus dieses Medi-Vans und spüre jeden Stein. Wie fährt dieser Irre bitte? Ist der high?

Was ich nicht ahne: zu diesem Zeitpunkt ist mein Darm bereits geplatzt. „Perforiert“ nennen die Ärzte das. Schmerzen aus der Unterwelt suchen mich heim und wecken in mir das Verlangen nach dem stärksten Zeug, das hier noch entgegenwirken kann.

Gebt mir irgendwas, Morphium oder zur Not dieses Tetrahydrocannabinol. Ich kannte zu meiner Studienzeit in Darmstadt in den frühen 2000ern einen quirligen Goamusiker, der uns mal stolz davon berichtete, dass er Elefantennarkotikum probiert hatte.

„Des haut rischtig rein Altor“, höre ich ihn noch heute sächseln.

Vielleicht würde das mir jetzt helfen.

3. Das große Warten

Es ist 19:30 Uhr. Wir erreichen das Krankenhaus. Man schiebt mich in die zentrale Auffangstation für Notfälle. Das grelle, künstliche Licht blendet penetrant. Ich inhaliere zum ersten Mal diesen ganz besonders unangenehmen Krankenhausmief, der mir noch Wochen später in der Nase sitzen wird.

“So Herr Rath, die Kollegen kümmern sich dann ab jetzt um Sie. Alles Gute.”

Da kommt jemand im weißen Kittel auf mich zu, schaut mich aber nicht an, sondern begrüßt nur Sani 1.

“N`abend. Wen habt ihr uns da mitgebracht?

Sani 1 schaut zum weißen Kittel und antwortet brav.

“Das Herr Rath, Verdacht auf Blinddarm.”

Alles klar, schauen wir uns an.”

Ich denke nur: Was geht hier ab? Bin ich unsichtbar? Warum werde ich nicht mal begrüßt?

In diesem Entrée liegen noch zwei weitere Ankömmlinge. Eine alte Oma, die sich auf ihrer Liege krümmt und vor Schmerzen stöhnt. Und ein mittelalter Typ, der nur stoisch in den Raum starrt und vermutlich einen Weg sucht, mit seinem Drama umzugehen. Niemand beachtet uns. Als wären wir Pakete, die darauf warten, weiter befördert zu werden.

Überhaupt erinnert alles stark an eine DHL-Paketstation. Die neue Ware kommt rein, wird erstmal irgendwo hinsortiert und dann passiert erstmal nichts, bis irgendwann jemand kommt und weitermacht. Und genau das ist das Ding:

Es kommt erstmal:

Niemand.

Ich lerne das große Warten kennen. Warten auf das Ungewisse. Auf irgendjemanden, der weiß, was der nächste Schritt sein könnte. Auf eine Diagnose. Auf ein Schmerzmittel. Darauf, dass das Warten endlich zu Ende ist. Und ich meine nicht das Warten mit dem Handy in der Hand. Ich meine das erbarmungslose Nichts-Tun-Warten. 

Für einen wie mich, der Langeweile seit der Erfindung des Internets routiniert im Keim erstickt und selbst in der Schlange an der Kasse im Supermarkt noch mal einen Tweet verschickt, eine undankbare Aufgabe. Einfach nichts tun. Also gar nichts. Einfach den Gedanken freien Lauf lassen, während die Schmerzen in meinem Bauch mich von innen auffressen.

Aber vielleicht liegt genau hier die Ironie. Vielleicht ist nichts tun genau das, was ich mir in der letzten Zeit zuwenig gegönnt habe. Ist das hier die Rache meines Körpers?

Eine junge Pflegerin kommt wortlos auf mich zu und wirft mir eine dünne Decke über. Ich habe schließlich nur Jeans und ein Shirt an, da Sani 2 beteuert hatte:

„In der Klinik isses warm.

Schön wär´s. 

Nach circa einer halben Stunde kommt ein weiterer weißer Kittel, stellt sich natürlich nicht vor und fragt mich die Frage, die ich in den nächsten Wochen noch tausend Mal beantworten darf:

“Irgendwelche Allergien?”

“Nee.” 

Ich werde weitergeschoben. Das DHL-Paket geht nun in die Weiterverarbeitung. Es scheint endlich loszugehen. Wird auch Zeit. Meine Motivationswerte sind weit unter 0. Gebt mir irgendwas und bringt mich wieder nach Hause. Dann beruhigt sich mein Bauch und morgen geht´s weiter. 

Aber die nächste Station ist eine andere. Es geht zum Ultraschall, den ich als dreifacher Vater natürlich schon kenne. Allerdings aus einer anderen Perspektive. Ein weiterer steriler Maschinenraum. Kein Bild, keine Pflanze. Nur gnadenloses, künstliches Licht. Dort liege ich wieder eine halbe Stunde rum und warte.

Ein neuer weißer Kittel begrüßt mich (wow!), schmiert mir dieses Gel auf den Bauch und scannt mein Innenleben. Neben mir steht ein großer Monitor, auf den wir gemeinsam schauen.

“Da Herr Rath, sehen Sie? Das ist ihr Darm.” 

Erinnerungen kommen in mir hoch. Als ich mit meiner Frau bei der ersten Schwangerschaft beim Ultraschall war und die Frauenärztin freudig meinte:

“Dann wollen wir mal sehen, ob sich Baby heute zu erkennen gibt.”

Wir wohnten in Hamburg. Meine Frau arbeitete in einer Physiotherapie in Fuhlsbüttel und ich versuchte mich als Social Media-Werber bei einer Agentur. Unser erstes Mädchen veränderte alles. Es teilte mein Leben in zwei Abschnitte. Und auch vier Jahre später hieß es dann in Rostock, wir waren mittlerweile wieder zurückgezogen in die Heimat:

“Es ist ein Mädchen.”

Ich hatte mich irgendwann als Mädchenpapa eingegroovt, da entschieden wir uns für ein drittes Kind. Und wieder der Ultraschall. Wieder starrten wir in freudiger Erwartung gemeinsam mit einem Arzt auf den Monitor.

“Es ist ein Mädchen”,

hieß es zum dritten Mal.

Wahnsinn. Dad of 3 Girls.

Und nun liege ich hier und schaue zusammen mit dem weißen Kittel auf den Monitor. Dieses Mal geht es nicht um ein Baby. Dieses Mal geht es um mich. Und was auch immer es ist, morgen sieht es schon besser aus. Der Optimist in mir ist noch wach. Bis er mit einmal hart auf die Fresse bekommt. Völlig unerwartet aus dem Nichts.

“Das sieht gar nicht gut aus, Herr Rath. Das müssen wir uns auf jeden Fall genauer ansehen.” 

4. Lebensgefahr

Ich werde weitergeschoben durch die nächtlichen Flure im medizinischen Mikrokosmos. Man parkt mich in einem Raum, der anders, aber eigentlich genau gleich ist wie alle anderen. Die Tür ist auf, also sehe ich beim Warten wenigstens etwas. Weiter hinten sitzt ein offensichtlich schwer alkoholisierter Mann in den 50ern und versucht immer wieder von seinem Stuhl aufzustehen.

“Sitzen bleiben, hab´ ich gesagt”,

ruft ein Pfleger ihm immer wieder zu. Ich liege mit meinen Krämpfen irgendwo in den Katakomben der Notaufnahme der Uniklinik – und warte. Die Schmerztabletten, die mir der Notdienst gegeben hat, machen mich müde. Vielleicht gelingt es mir einzunicken. Dauert ja eh noch hier.

Als meine Augen gerade zufallen, betritt eine Ärztin meinen Raum und spricht mich laut und deutlich an.

„So Herr Rath, dann schicke ich sie noch einmal zum CT.“

Einmal in die Röhre also. Das meinten sie mit genauer hinsehen. Na dann, schiebt mich hin und los.

Nach einer ausführlichen Aufklärung über die möglichen Nebenwirkungen der Strahlen, denen man mich aussetzen wird, geht es endlich los.

“Sie haben Glück im Unglück, Herr Rath”,

erfahre ich eine weitere Stunde später.

“Sie haben eine akute Divertikulitis. Einen entzündeten Darm.”

“Aha und das heißt?”

Ich höre die Ärztin fachsimpeln. Ob ich ihre Sprache irgendwie decodieren kann? Sie reiht Fachbegriff an Fachbegriff. Ich frage nach und ernte weitere Fachbegriffe. Ich überlege für einen Moment, den Google Translator anzuwerfen. Einmal „Medizinisches Fachchinesisch – Deutsch“ bitte. Sie scheint zu erkennen, dass ich nur Bahnhof verstehe und wechselt zurück ins Deutsche. 

“Herr Rath, bei ihnen ist der Darm geplatzt! So etwas ist lebensgefährlich!”

Warte mal, was hat sie da eben gesagt?

„Sowas erleben wir in der Regel nur bei älteren Leuten. Deutlich älteren.”

„Aber warum.. Wie konnte das…?”

“Das können wir im Moment leider noch nicht sagen. Das Gute ist, dass ihre Perforation von der anderen Seite gedeckt wurde.“

Offensichtlich hat mein Körper es selbst in die Hand genommen und die Unfallstelle abgesperrt. Und nicht nur das, mein Körper hat es quasi notbehandelt. Auf eigene Faust. Alles andere hätte auch zu lange gedauert.

“Sonst hätten wir sie jetzt sofort in den Operationssaal geschoben. Ungeplante OPs sind aber immer mit großen Risiken verbunden.”

Das hätte mir noch gefehlt heute. 

Währenddessen versucht meine Frau, telefonisch irgendein Update zu ergattern. Jetzt wäre eine Sendungsverfolgung per App von Vorteil. Der Patient befindet sich aktuell nicht mehr bei der Computertomographie, sondern im Besprechungsraum.

Mein Handy ist irgendwo tief in meiner Tasche, die ich für alle Fälle mitbekommen habe. Mit dabei Zahnbürste, Schlafanzug und frische Schlüppis. Das Nötigste.

“Der bleibt erstmal hier”,

höre ich eine Schwester am Telefon sagen. Meint die mich? So werden die mich heute ja nicht mehr nach Hause lassen. Oder?

5. Das kranke Haus

Unwirklich. Es geht tatsächlich auf Station. Das hätte ich mir heute morgen nicht ausgemalt, als die Bauchschmerzen begannen. Man schiebt mich, auf dieser schmalen Krankenhausliege kauernd, durch die anonymen Korridore der Universitätsmedizin, die mich irgendwie an den Film “Cube” erinnern. Alles sieht gleich aus. Und wenn man es aus einem Raum geschafft hat kommt man in den nächsten, der auch nicht viel besser ist.

Mittlerweile ist es 0:30 Uhr. Die Nachtschicht der chirurgischen Station D nimmt mich in Empfang und schiebt mich zu meinem Zimmer. Ob die hier 1-Bett-Zimmer haben? Das wäre ein Traum. Einfach Ruhe. Mehr will ich ja gar nicht. 

Minuten später liege ich in einem großen 4-Bett-Zimmer. Das ist also mein Appartment für die nächsten Tage. Hier liegt zwar aktuell nur ein Opa, der fühlt sich aber berufen, aufgeregt auf mich einzuschnattern.

“Alles nicht so einfach. Geht manchmal schneller als man denkt. Is´dann so ne`? Was willste machen?”

Hat der gerade einen doppelten Espresso getrunken? Immerhin begrüßt er mich freundlich und stellt sich sogar vor. Während Opi mir Dinge sagt, die mich kaum noch erreichen, weil meine Kräfte und meine Aufmerksamkeit schwinden, verpassen die Kittel mir einen Tropf. Kurz vor 1 döse ich endlich ein. Opa ratzt auch wieder. Da ist sie also endlich, diese Ruhe. Herrlich.

Vonwegen. Eine halbe Stunde später platzt eine Schwester wieder rein. Allerdings nicht so leise wie ich, wenn ich in das Kinderzimmer unserer Töchter schleiche, wenn sie nachts schlafen. Ganz im Gegenteil. Sie reißt diese überdimensional große und schwere Tür auf wie das Tor von Moria. Mein Tropf ist durchgelaufen und muss nun gewechselt werden.

„So Herr Rath, einmal wechseln.“

Und natürlich bin ich nun wieder hellwach. Großartig. Immerhin liege ich am Fenster, auch wenn ich gerade kaum etwas erkennen kann. Welche Ecke ist das da? Egal. Der vierte Januar 2023 neigt sich dem Ende entgegen. Ich werde ihn so schnell nicht vergessen. Ob meine Frau ihr Update noch bekommen hat? An mein Handy komme ich leider nicht. Kann mich kaum bewegen. Bin fix und alle und mit den Tropfkabel vertütelt. Das Schmerzmittel wirkt irgendwie. Good Night.

Zack, bumm. Dia wird die Tür wieder aufgerissen. Und das bedeutet: Flutlicht an. Also alles, was es an künstlichem Licht in diesem Raum gibt. Deckenbeleuchtung, Eingangsbereich, Seiten, alles. Man könnte ja auch eine kleine Lampe anmachen, aber nein.

Wie spät ist es? Wer will hier Stress? Wo bin ich? Eine ältere Schwester kommt auf mich zu. Sie bemüht sich nicht mal zu flüstern. Warum auch? Sie ist wach. Also können alle anderen auch wach sein. Mit der tiefen Stimme eines Bergarbeiters brummt sich mich an.

“Wir müssen die Entzündungswerte runterkriegen Herr Rath.”

Ich nicke, als ob ich wüsste, wie die nächsten medizinischen Schritte aussehen sollten und schaue auf die Uhr. 5 Uhr fucking 30.

Ich dachte, Schlaf ist die beste Medizin. Lasst mich doch bitte erstmal pennen und danach machen wir weiter mit der Behandlung. Schön wärs, aber das hier ist nicht die Kurklinik Bad Gandersheim. 

Das hier ist die Universitätsmedizin. Hier stehen Patienten auf der Warteliste, um ein freies Bett zu ergattern. Hier fehlen Fachkräfte. Und die, die da sind, haben gerade zwei Jahre Corona durchgemacht. Das muss man immer mitbedenken. Dieser Ort hier ist quasi das Ergebnis von vielen unschönen Entwicklungen. Trotzdem hätte ich ein paar Ideen, wie man es für Mitarbeitende und Partient:innen angenehmer gestalten könnte. Andererseits will ich mich mit diesem Ort, an dem Menschen Grenzerfahrungen machen, gar nicht anfreunden. Vielleicht braucht es diese Anonymität, damit es aushaltbar bleibt.

Ich döse wieder ein bis um Punkt 6 die nächste Schwester in das Zimmer kommt und die Tür aus dem Schloss reißt.

Kann nicht irgendwer mal am Sounddesign dieser schrecklichen Krankenhaustore basteln?

Irgendwer aus der Automobilindustrie. So wie die Tür eines Porsche aufgeht und wieder ins Schloss fällt, so wünsche ich mir und meinen Mitbewohnern das. Stattdessen knallt und kracht es hier im Minutentakt. Und bei einem belegten 4-Bett-Zimmer ist natürlich auch immer was los.

6. Der zerhackte Tag

Es geht los mit der Morgencrew, die in aller Herrgottsfrühe die ersten Schnäpse verteilt, wie wir die Medizin in diesen kleinen Plastebechern nennen. Dann kommt die Zimmerreinigung, im Anschluss die Waschpatroullie, gefolgt von den Frühstückslieferanten und der Visite. Und die ist hier eine echt große Sache. Der ganze Tag wird quasi drum herum organisiert, aber es ist ein Geheimnis, wann die Ärztin mit ihrer Entourage in die Area steppt. Irgendwann zwischen 7 und 12 steckt dann für gewöhnlich ein Pfleger die Nase in unser Zimmer, schaut sich um, als würde er verfolgt und flüstert dann geheimnisvoll:

“Müssten gleich hier sein.”

Aber warum flüstert der? Die Visite scheint berüchtigt zu sein. Der will man nicht in den Weg kommen. Und für die muss eben auch alles vorbereitet sein. Die Betten müssen gemacht, die Katheter geleert und die Patienten geweckt sein. Wenn nicht, gibt´s Ärger. Vermute ich. Wir liegen natürlich im letzten Zimmer des langen Stationsflurs. Das bedeutet, dass die Visite bei uns zuletzt reinschneit, während die ersten Zimmer sich bereits mental auf das Mittagessen vorbereiten. Und dann geht alles ganz schnell.

Ein kurzer, aber kräftiger Klopfer an unserer Tür und eine Schar weißer Kittel stürmt hektisch ins Zimmer. Sie sammeln sich um den Arzt, manchmal auch um die Ärztin, aber meistens um den Arzt. Dieser wirft ein gelangweiltes “Morgen” in den Raum, schreitet zu Patient 1 und von da aus dann weiter von Bett zu Bett. Traditionell beginnt die Routine immer mit der selben Frage. So will es das Gesetz.

“Na wie geht´s uns denn heute?”

Während man also die letzten 24 Stunden zusammenfasst, schaut der Doc nachdenklich in die Patientenakte. Die Entourage hört derweil nicht nur ganz genau zu, sie müssen offensichtlich auch total beschäftigt aussehen. Eine junge Dame, Mitte 20, scheint die unsichtbare Regel für einen Moment vergessen zu haben. Sie guckt einfach nur aus dem Fenster, aber eben nicht beschäftigt in die Runde. Was fällt ihr ein? Es kommt erschwerend dazu, dass sie als Einzige nichts in der Hand hat. Keinen Hefter, kein Tablet. Nicht mal einen lausigen Stift. Wo hat sie nur ihren Kopf? Mitten in der Visite fällt dem Chefarzt dieser Faupax auf, woraufhin er sie in bester Dr. House Manier anschnauzt:

“Hey Sie! Nicht nichts machen!” 

Dann fährt der Halbgott in Weiß fort, erkundigt sich, ob wir alle schon gekackt haben. Und damit nicht genug. Er interessiert sich auch für grobe Mengenschätzungen. Als er zu mir kommt erhoffe ich mir positive Aussichten. Wann kann ich nach Hause?

“Sie werden schon noch ein paar Tage bei uns bleiben, damit wir die Entzündung Ihres Darms richtig auskurieren und dann sehen wir weiter.”

Wie weiter? Ich dachte, das war´s dann. Also ich hätte da jetzt keinen weiteren Bedarf für eine langfristige Behandlung.

“Und dann schauen wir, ob sie noch operiert werden müssen. Ich denke, da kommen wir nicht drum herum.”

Darauf war ich nicht vorbereitet. Das Ding kommt völlig aus dem Nichts und zertrümmert meinen morgendlichen Optimismus in Sekunden. Ehe ich mich von dem Schock erholen kann ist der Arzt mit seinen Followern bereits entwichen.

Neben mir liegt ein Enddreißiger aus Vorpommern, der quasi seit 2 Jahren von OP zu OP weitergereicht wird. Schulter, Rücken, Blinddarm, Dickdarm. Als ob der Kraken Krankenhaus ihn nicht mehr loslassen will. Überhaupt scheint es gefährlich zu sein, sich zu lange in Krankenhäusern aufzuhalten. An Tag 3 merke ich es langsam. Der sterile Raum, der Mief und das lange Liegen versetzen mich in einen dumpfen Dämmerzustand. Ich erkenne weniger Farben, vermisse meine Lebensenergie und döse mich antriebslos durch den monotonen Tag.

“Pass auf, dass du nicht krankenhauskrank wirst”,

meint Winnie, der mir seit kurzem schräg gegenüber liegt.

“Du musst gucken, dass du irgendwann hier raus kommst.”

7. Winnie

Heute ist der Tag der Entscheidung.

Der Tumor muss weg! Opa Winnie bangt und hofft. Gleichzeitig. Seine Chancen stehen 50/50.

Die Hansa Socken sollen ihm Glück bringen. Doch sie zwingen ihn, sie auszuziehen. Verdammte Vorschriften.

Wird es trotzdem reichen? Die Ärzte kämpfen im OP um sein Leben.

Es steht auf der Kippe. Zurück ins Leben oder weiter ins Ungewisse?

Einen Tag zuvor lerne ich ihn kennen. Wir sind „Mitbewohner auf Zeit.“

Leidensgenossen in der Chirurgie. In einem miefenden 4-Bett-Zimmer der Uniklinik.

Winnie ist freundlich, erzählt Witze.

„Ist ja sonst so trist hier“,

meint er. Ein herzensguter Mensch. Mit Frau, Sohn und Tochter.

45 Jahre hat er bei der selben Firma malocht.

„Hab‘ immer gern gearbeitet“,

betont er.

“Nie getrunken, nie geraucht.“

Und dann das: Diagnose Krebs.

Also Chemo. Woche für Woche.

Und heute die große Operation.

Winnies Platz ist nun leer. Sein Bett ist nicht mehr da. Wird er wiederkommen?

Stille.

Am nächsten Morgen wache ich auf. Aber Opa Winnie ist noch nicht zurück. Kein gutes Zeichen.

Aber seine Sachen sind doch noch da. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Kurz vor Mittag geht die Tür mit einmal auf.

Winnie ist wieder da!

Kommt gerade aus dem Aufwachraum. Irgendwie hat er es tatsächlich geschafft.

“Ist wie ein zweiter Geburtstag“,

flüstert er. Wie freuen uns riesig mit ihm.

Das triste 4-Bett-Zimmer leuchtet für einen Moment.

So geht das Leben neu los.

Jeder Tag ein Geschenk.

Wertschätzen wir es.

8. Technik, die begeistert

Was hier an Herzlichkeit fehlt macht die Klinik an Modernität wieder wett. Immerhin. Die haben hier Kabelfernsehen. Am Nachttisch hängt ein kleiner Fernseher, kaum größer als ein iPad Mini. Funktioniert per Touch und bietet neben den üblichen Kanälen sogar Radio und einen Entertainmentbereich. Ist ja wie im Flugzeug. Ich schaue Alf und poste ein Bild bei Linkedin, in dem ich darauf hinweise, dass es auf eine Pause meines wöchentlich erscheinenden Podcasts “New Work Chat” hinauslaufen wird.

Mehr als 140 meiner Kontakte kommentieren und wünschen mir alles Gute. Darunter ist auch der Corporate Account der mir unbekannten BEWATEC ConnectedCare GmbH. “Wir wünschen gute Besserung 🍀 und weiterhin positive Nebeneffekte mit Alf & Co. auf unseren Bedside Terminals 😉.“  Respekt, das Social Team ist auf Zack.

Ob die hier auch WLAN haben? Ich kann es mir nicht vorstellen, frage also gar nicht nach. Schließlich befinde ich mich doch mitten im “Kartenzahlung nicht möglich-Land”. Umso mehr staune ich, als ich in den Nachrichten von einem neuen Megaroboter lese, den man sich hier angeschafft hat. DaVinci heißt der Medirobo, der in Kalifornien entwickelt wurde und mehr als 3 Millionen Euro gekostet hat. Geld scheint ja da zu sein.

Ich lerne, dass der DaVinci minimalinvasive Eingriffe noch schonender machen soll. Eingesetzt werden soll er unter anderem bei Erkrankungen an der Prostata, Niere, Lunge, Leber, Speiseröhre sowie an Gefäßen und verschiedenen Darmabschnitten. Und da klingelt es natürlich bei mir.

Jedenfalls kann ich mir mit einmal doch vorstellen, dass es ein Partienteninternet in diesem Krankenhaus gibt. Wer weiß, vielleicht haben die ja einen pfiffigen IT-Leiter hier, dem die User Experience der Patientinnen am Herzen liegt. Den nächsten Pfleger, der hier rein stolpert, schnappe ich mir.

Bitte, lass es ein kleines, mickriges WLAN geben, um meinen Mobilfunkdings zu entlasten. Schließlich bekam ich schon heute früh um 6:30 Uhr diese grausame SMS, die ich leider viel zu oft erhalte. “Sie haben 80% Ihres Datenvolumens aufgebraucht.” Keine guten Nachrichten für jemanden, der viel Zeit totzuschlagen hat. 

Und tatsächlich, da geht die Tür auf.

“Na klar ham wir WLAN”,

meint er nur schulterzuckend. Er wirft mir das Krankenhaus-Hochglanz-Mäppchen rüber, das mich mit allen Informationen versorgen soll, das ich gern schon an Tag 1 gehabt hätte. Da ist noch Luft beim Onboarding liebe Klinik. Ich blättere hektisch durch die Seiten und tatsächlich. Minuten später surfe ich mit luxuriösen 100 Mbit durch die Weiten des World Wide Web und fühle mich mit einmal ein bißchen freier. Draußen klart der Himmel auf. Heute Nachmittag kommt meine Frau mich besuchen.

Das wird schon alles. 

9. Der triste Alltag im Hospital

Mir gegenüber liegt nun ein älterer Mann um die 80. Er spricht nicht viel. Um genau zu sein: Er sagt gar nichts. Vermutlich hört er auch nicht mehr so gut. Die Krankenschwestern fragen ihn, was er essen möchte. Zum Frühstück Brötchen mit Salami und Käse. Zum Mittag Schnitzel mit Kartoffeln. Neidisch höre ich weg. Mein Magen grummelt. Er hat seit 3 Tagen nichts bekommen und ist daher mit der Gesamtsituation unzufrieden.

Ich darf Wasser und Tee trinken. Und erstmals gibt es heute eine Suppe für mich. Diese Zwangsdiät ist nicht schön, doch ich versuche mir einzureden, dass ich so wenigstens mal etwas abspecken kann. Muss halt nur wegschauen, wenn mein Gegenüber reinhaut. Und weghören. Am besten Kopfhörer auf und Fenster auf Kipp.

Der Hunger ist da, keine Frage, aber längst nicht so stark wie erwartet. Wenn man tagelang in einem schlechtgelüfteten 4-Bett-Zimmer liegt, in dem 4 Männer ausdünsten, dann kommt auch nicht unbedingt Appetit auf.

Um 11:30 Uhr reicht man mir einen Teller dickflüssiger Substanz. Suppe nennen sie das? Die Konsistenz erinnert an etwas anderes. Der Blick auf die Katheter meiner Mitbewohner beim Essen ist gewöhnungsbedürftig. Aber hey, es füllt den Magen.

Ich höre das Buch “Darm mit Charme” von der Poetry Slammerin Giulia Enders und tauche ein in die mir bisher verborgene Welt des sogeannten zweiten Gehirns. Wie ein neugieriger Opa konsumiere ich Dokumentationen über den Darm und über die darmfreundliche Ernährung bei einer Divertikulitis. Ich befürchte, nie wieder gut essen zu können. Nie wieder Steaks mit scharfer Soße und fettigen Fritten? Nur noch gequetschte Kartoffeln mit Quark und zum Nachtisch ein Magerjoghurt? Bitte nicht. Ich möchte ja gern gesünder leben, aber muss es gleich so krass sein?

Ich döse durch den Tag. Patienten verlassen den Raum, kommen neu dazu. Und auch das Personal rotiert durch den Schichtdienst. Es ist ein Kommen und Gehen. Man hat schnell raus, wer hier die guten und wer die brummigen Mitarbeitenden sind. Und man arrangiert sich.

Zwei Zimmer weiter liegt jemand und schreit vor Schmerzen. Ununterbrochen. Bekommt schon Morphium, aber schreit. Das Personal rollt genervt mit den Augen, als ich nachfrage, was da los ist.

“Wir können da aktuell nicht viel machen. Die Dosis, die er bekommt, ist schon an der Grenze.”

Es klingt fürchterlich. Ich war mal mit meinen Großeltern in Kopenhagen, als ich 12 war. Da waren wir in einem Erlebnis-Museum und gingen am Ende durch einen Folterkeller, der uns auch akustisch verdeutlichte, wie das eben früher so war. Genau diese Schreie höre ich nun wieder. Am nächsten Tag erstummen die Schreie. Wir erfahren natürlich nicht, was passiert ist. Aber wir denken uns unseren Teil.

Viel näher kann man dem Tod nicht kommen als auf der chirurgischen Station des Krankenhauses. Tumore, Unfallopfer, Leidende in allen Ecken. Das zieht runter. Gelacht wird hier nicht viel. Nur wenn es heißt: Sie können gehen, was ganz pragmatisch auch bedeuten kann: Wir brauchen Ihr Bett für einen schwereren Fall.

10. Auf Wiedersehen!

Nach einer Woche darf ich tatsächlich raus. Die Freude ist groß, denn ich erfahre es erst am Morgen des Entlassungstages von der Visite. Egal, hauptsache nach Hause. Allerdings hat die Sache einen Haken. Ich muss nochmal zurück kommen. Für eine Operation. Die Chirurgen empfehlen mir dringend, das Stück des Darms entfernen zu lassen, in dem das Loch sich bildete. Und ich hatte gehofft, dass es einfach wieder zuwächst. 

Ich bekomme eine Überweisung für meine Hausärztin, einen sogenannten Krankenhausbrief.

“Da stellen sich mal vor Herr Rath. Und wir sehen uns dann in 2 Wochen wieder hier. Am 24. Januar planen wir sie dann hier ein.”

Aber am 25. wollen wir doch umziehen. Und diesen Horror, den ganzen Haushalt mit drei Kindern und Dackeldame Adele soll meine Frau allein wuppen? Die wird sich bedanken. Es wird ja schon zu zweit stressig. Erwähnte ich, dass ich Umzüge abgrundtief hasse? Wenn ich schon daran denke, Schränke ab- und später wieder aufzubauen wird mir anders. Dazu kommt erschwerend, dass ich nicht unbedingt der talentierteste und passionierteste Hobbyhandwerker bin. Darüber freuten sich in den letzten Jahren besonders mein Vater und mein Schwiegervater, die dann mit ihrer Handwerkerexpertise immer wieder glänzen durften. 

Da wir in den letzten Jahren relativ oft umzogen, hielt sich natürlich die Freude auch in Grenzen, wenn wir mal wieder ankündigen, dass wir umziehen.

Aber es ließ sich leider oft nicht vermeiden. Wir zogen 2007 ohne Kinder nach Hamburg, in den Süden nach Harburg. Dazu meinte Beginner Jan Delay ja mal: Südlich Elbe ist das Leben nicht das Selbe. Mag sein, war aber bezahlbar für uns arme Kirchenmäuse. Irgendwann begann ich mein Volontariat bei einer Werbeagentur und wir konnten uns mehr leisten, zogen also in das richtige Hamburg nördlich der Elbe.

Freunde und Familienmitglieder kamen damals zu uns und halfen uns beim Umzug. Ende 2011 zogen wir dann zurück nach Rostock mit unserer ersten Tochter, um in den Genuss des Familiensupports zu kommen. Da ich aber noch keinen Job in Rostock fand suchte ich mir erstmal ein WG-Zimmer und zog nach Altona. Nach 3 Monaten pendeln kam ich nach und entdeckte eine Traumwohnung für uns im Ostseebad Warnemünde, dem Stadtteil Rostocks mit eigenem Strand. Dem Stadtteil, in dem ich in den 80ern und 90ern aufgewachsen war. Also wieder Umzug. 

Dann wurde meine Frau nach einem Jahr aber wieder schwanger und die Wohnung verkleinerte sich wie von Geisterhand. Also wieder Umzug in eine Wohnung mit mehr Platz. Im Freundeskreis hielt sich die Begeisterung in Grenzen und auch in der Family wurde “Wir ziehen wieder um” zum Running Gag.

Was das auch kostet, also nervlich. Danach ist man eigentlich bereit für eine 14-tägige Erholungskur im Wellness Resort. Gern auch mal ohne Kinder. Tja und dann wurden wir vor 4 Jahren zum dritten Mal Eltern und kamen ins Grübeln. Wir wollten eigentlich nicht mehr umziehen. Malten uns aus, wie wir auch mit wenig Platz kreativ gut auskommen könnten. Tiny Flat oder so. Aber es ging einfach nicht.

Irgendwann brauchte die Große ein eigenes Zimmer. Wir teilten also das Wohnzimmer und bauten einen Schlafbereich ein mit einem dieser platzsparenden Klappbetten, die man am Tag nicht bemerkt und dann am Abend von der Wand nach unten zieht. Aber der Platz fehlte trotzdem an allen Ecken und Enden. Konflikte nahmen zu und wir begannen uns wieder umzusehen. 

Dann kam Corona und ließ den Immobilienmarkt explodieren. Super Timing. 5 Raum Wohnungen? Überhaupt nicht im Angebot, noch nichtmal für die Superreichen. Wir malten uns schon aus, aus der Stadt ins Dorf zu ziehen, hatten aber Respekt vor der Logistik der Kinderorga. Hashtag Schule.

Und dann extra ein zweites Auto kaufen und täglich im Berufsverkehr stecken? Bitte nicht. Und genau als wir eigentlich schon enttäuscht aufgegeben hatten ergab sich etwas. Und wir bekamen den Zuschlag. Ein Geschenk des Himmels. 

Also Umzugsunternehmen angefragt und bestellt. Das im Hinterkopf zu haben nahm mir natürlich etwas den Druck, als ich begann, mich mit dem Gedanken einer OP zu beschäftigen.

11. Einmal unters Messer – oder doch nicht?  

Ganz wohl ist mir nicht bei der Vorstellung, aufgeschnitten zu werden. Was, wenn da Komplikationen auftreten? Was, wenn die noch was anderes finden? Außerdem sagt man Chirurgen doch nach, dass sie immer zu OPs raten. Die verdienen für die Kliniken doch genau damit ihre Kohle oder? Andererseits sind sie die Experten. Die werden ja niemanden aufschneiden, wenn es nicht sein muss. Wir sind ja hier nicht bei der Organmafia.

Mal sehen, was die Hausärztin sagt. Nur doof, dass die selber krank ist. Vertretung ist zufälligerweise eine Internistin, die mich sehr freundlich begrüßt und sich meinen Case schildern lässt.

“Na da warten sie erstmal ab Herr Rath. Da machen wir erstmal gar nichts. In Ihrem Alter, da kann das noch alles gut heilen. Lassen sich da keine Angst machen. Ich zeig Ihnen mal ein Ärzteportal., die raten auch ab.”

Sie winkt mich zu sich. Ich bin etwas verwirrt. Doch nicht operieren?

“Schauen Sie mal hier”,

sagt sie und zeigt auf den Bildschirm, während sie nach unten scrollt.

„Die Experten sind sich einig. Da operiert man nicht gleich. Ist ja auch immer mit gewissen Risiken verbunden. Da kann schlimmstenfalls noch sonst was passieren. Am Ende entzündet sich die Wunde danach.”

“Aber ich dachte, es wäre ein Risiko, nicht operieren zu lassen?”

entgegne ich kleinlaut.

“Naja ein Risiko gibt es natürlich immer. Egal, was sie machen.”

Fantastisch. 

Ich bedanke mich und gehe einigermaßen zerknirscht nach Hause. Was mache ich denn jetzt?

“Na was wohl?”

meint meine Mutter, der ich den Besuch bei der Ärztin schildere.

“Du holst dir am besten eine dritte Meinung ein. Oder zwei.”

„Aber das sind dann ja vier.”

“Ja um so besser.”

Ich google “Darmexperten in Rostock” und tatsächlich, da poppen einige Spezialisten auf. Ich rufe an und erreiche natürlich erstmal niemanden. Das kenne ich schon. Dann den nächsten, aber ich habe wieder Pech. Und dann lese ich Darmsprechstunde. Ich fühle mich wirklich allmählich wie ein 80-Jähriger. Und tatsächlich passiert den Erfahreneren eine Entzündung des Darms wesentlich öfter als Midagern wie mir.  

Darmsprechstunde klingt nach dem Treff der anonymen Darmkranken, die sich, etwas peinlich berührt, im Stuhlkreis über ihre Erfahrungen und Ängste austauschen. Da hätte ich spontan mehr Lust auf andere Sachen. Gott sei Dank ist die Darmsprechstunde aber telefonisch. Ich rufe ein paar Tage später da an und spreche mit einer jungen Dame, der ich meine Story ausführlich erzähle. Nach einigen Minuten, in denen sie mir aufmerksam zugehört hat, meint sie trocken.

“Ja das müssten Sie dann nochmal mit den Chirurgen besprechen. Ich bin ja nur eine Schwester.”

Na super. Dann hätte ich mir meinen Monolog auch sparen können.

“Ok, dann stellen Sie mal durch.”

“Die sind jetzt nicht zu greifen. Ich richte es aus und die melden sich bei Ihnen.”

Was dann die nächsten Tage natürlich nicht passiert.

Ich spreche mit dem Eigentümer unserer neuen Wohnung und wir kommen auf das Thema. Es stellt sich raus, dass er Arzt ist. Spezialistert auf Inneres.

“Ja, das lassen Sie mal machen. Sollte bei Ihnen auch kein Problem sein. Sind ja noch jung.”

Gilt das schon als dritte Meinung? So aus der Hüfte? Ohne meine Werte im Detail zu kennen? I doubt it. Doch er ist nicht Einzige, der sich mit dem Thema “Divertikulitis” auszukennen scheint. Ich mache keinen großen Hehl aus meiner Krankheit und erzähle es hier und da. Und staune, was ich darauf hin höre.

“Ja genau das hatte ich letztes Jahr auch. Mit OP. Kann ich dir nur raten. Lass das machen. Du weißt sonst nie, ob das Loch bei dir wieder richtig aufgeht.”

Ok das ist ein Punkt. Dann klingelt auch noch unverhofft mein Handy und der Chirurg aus der Klinik ist dran. Der von der Darmsprechstunde. Er versteht überhaupt nicht, dass ich jetzt nochmal ins Zweifeln komme. Das sei schließlich auch der nomale Prozess. Und würde auch im Leitfaden so stehen. Aha. Na dann. Aber je mehr Gespräche ich dazu führe um so sicherer werde ich: Ich bleibe bei der OP. Ziehen wir´s einfach durch. Die machen das ja ständig. Wird schon gut gehen. 

Drei Tage vor der geplanten Operation lasse ich mich in der Klinik durchchecken und über Narkose und Co aufklären. Zwei Tage vorher darf ich zwei widerlich schmeckende Abführ-Cocktails genießen. Meine Frau und unsere Kinder sind bei der Family zum Kaffee eingeladen. Ich bleibe besser zu Hause – und beginne mein ganz besonderes Heilfasten. Am nächsten Tag lasse ich mich ins Krankenhaus fahren. Aber dieses Mal bin ich vorbereitet. 

12. 7 vs Wild

Twitch Streamer Knossi erlebt währenddessen 7 schwere Tage im Dschungel einer einsamen Insel in Panama. Er ist einer von 7 Freiwilligen, die sich darauf eingelassen haben, eine Woche in der Wildnis zu überleben und dabei nur 7 Gegenstände aus der Zivilisation dabei zu haben.

Und auch ich habe 7 Gegenstände dabei, als ich mich erneut in die grau-weißen Abgründe der Klinik begebe. 

1 Mein Kopfkissen.

Ich habe in der ersten Woche so mies gepennt, was unter anderem an dem harten und kleinen Kissen lag. Und an der Matratze, aber ich kann ja schlecht meine eigene Matratze mitbringen.

2 Mein Laptop.

Ich freue mich auf einen Rewatch einer meiner Lieblingsserien: Mad Men. Das wird mich sicher ablenken.

3 Ohropax.

Wer weiß, mit wem ich in einem Zimmer liegen werde und wer weiß wie krass die Männer schnarchen. Ich bin da tatsächlich sehr sensibel und komm dann überhaupt nicht mehr zur Ruhe, wenn da erstmal einer begonnen hat, die Bäume zu sägen. 

4 Minzöl.

Ich weiß, es stinkt hier. Mal mehr und mal weniger. Aber besser ich bin gewappnet und kann mir ein paar Tropfen unter die Nase reiben. Machen Müllmänner wohl auch so.

5 Handy.

Für Messenger und Twitter. Wichtig zum Überleben.

6 Kaugummis.

Für etwas Geschmack zwischen Wasser und Tee.

7 Hausschuhe.

Für ein kleines bißchen Zu Hause-Gefühl.

Und da bin ich also wieder nach 14 Tagen. Zurück auf Station D der Unimedizin Rostock.

Dieses Mal tatsächlich in einem angenehmen 2-Bett-Zimmer. Mein Mitbewohner auf Zeit ist nett und scheint sehr hygienisch zu sein. Das ist schon mal die halbe Miete, zumal man sich eine Toilette teilt. Ich ziehe mir den stylischen OP-Dress an, denn an Tag 1 steht eine Darmspiegelung für mich an. Soll angeblich halb so wild sein. Und ist es dann zum Glück auch. Ich bin mittlerweile fast 2 Tage ohne Essen. Noch geht es. Morgen steht die OP an. Daher natürlich weiterhin nix essen. Schade eigentlich. 

Ich schlurfe über den tristen Flur der Station, setze mich an einen kleinen Tisch und lasse die Szenerie auf mich wirken.

Da hinten kommt jemand langsam auf mich zu. Ein kleiner Opa im Bademantel. Er hat eine Glatze, fast als ob er eine Chemo bekommen hätte. Ich traue meinen Augen nicht. Ist das etwa Winnie? Tatsächlich.

“Winnie, ich bin´s. Du noch hier?”

„Ich kann wohl morgen nach Hause”

sagt er und strahlt.

“Der Tumor ist raus. Jetzt wird alles gut.”

Ich berichte ihm kurz von meiner Story und Winnie meint nur:

„Kannst nix machen. Ist dann so. Wird schon, Großer.”

Ich wünsche ihm alles Gute und meine es.

“Vielleicht sieht man sich mal bei Hansa.” 

13. Der Tag des Eingriffs

Ich wache auf und denke sofort an die Operation. Wann es wohl soweit sein wird? Das weiß man hier nie. Könnte heute vormittag sein. Oder am Nachmittag. Je nach dem, was noch so passiert.

Ich habe Glück. Um 8 geht die Tür auf und ein Pfleger, der den ganzen Tag Betten durch´s Haus schiebt, holt mich ab. Er habe aber noch mehr vor, versichert mir der junge Mann. Wir fahren mit dem Fahrstuhl. Ich liege in meinem Krankenhausbett. Der Point of no return ist offiziell erreicht.

Der junge Bettenlogistiker schiebt mein Bett durch die endlosen Gänge. An den Seiten sitzen Angehörige, schlurfen Patienten an mir vorbei und werfen mir merkwürdige Blicke zu. Wisst ihr mehr als ich? Noch könnte ich abhauen. Im flatternden Krankenhaushemd barfuß die Flucht ergreifen wie Dr. Kimble. Einfach ab durch die Mitte. Egal wohin, nur weg.

Aber nein, ich wollte das hier ja. Wir erreichen also den Bettenparkplatz in einer der unteren Stockwerke. Hier liegen bereits drei Patienten in ihren Betten und warten buchstäblich auf grünes Licht. Tatsächlich gibt es eine Ampel über dem großen schweren Tor, hinter dem sich der Maschinenraum befinden muss. Momentan leuchtet es rot. Sekunden werden zu Minuten. Es zieht sich. Dann endlich, es geht los. Man schiebt mich in den Innenbereich. Ich bin ziemlich aufgeregt. Habt ihr irgendwas zum Runterkommen? 

Es piept irgendwo dahinten. Eine Schwester übernimmt mein Bett und schiebt mich weiter in einen recht kleinen Raum. Hier soll das Gemetzel also gleich stattfinden? Ist das nicht etwas eng?

“Wie viele Leute sind denn bei meiner OP dabei?”

will ich wissen.

“Joar so 8 vielleicht.”

Krass. Läuft vielleicht ab wie die Visite. Einer hat den Hut auf, meist sind das hier Männer, und der Rest muss möglichst beschäftigt aussehen. Mit dem Stift in der Hand und einem Block unter dem Arm. Ich werde mal wieder gefragt, ob ich Allergien habe und wie das mit Vorerkrankungen aussieht. Und überhaupt, was denn heute gemacht werden soll.

Ernsthaft? Ich dachte, das sagt ihr mir. Doch diese Miniinterviews sind angeblich Teil der Routine, Step 1 im OP-Prozess. Abgleichen von To Do und Erwartungshaltung der Patienten. Außerdem kann man gar nicht oft genug fragen, meint die Schwester. Ist alles schon mal vorgekommen, dass der falsche Patient operiert wurde. Wie beruhigend.

Ich hoffe, sie spielt auf die 50er Jahre an. Ich meine wir leben im High-Tech Zeitalter. Roboter operieren hier. Was wollt ihr eigentlich? Überhaupt bin ich genervt, weil es nicht los geht. Das erste Narkosemittel tütelt mich langsam etwas ein. Dann kommt das richtig gute Zeug, hoffe ich jedenfalls. Doch es ist das Gegenteil. Alles dreht sich. Und kein Arzt in Sicht. Doch dahinten kommt jemand. Alles verschwimmt. Ich vermute die Umrisse eines weißen Kittels.

“Herr Rath? Herr Rath!”

Ja, anwesend. Wasssiss?” 

„Der Doktor müsste gleich da sein. Einen Moment noch bitte.“

„Ok.“

Wir erinnern uns an den Anfang dieser Geschichte. Und sind gespannt auf den Ausgang.

14. Das langsame Erwachen 

Ich öffne meine Augen.

Langsam.

Alles ist weiß.

Gedämpftes Licht.

Ein entferntes Flüstern.

Wo bin ich?

Auf der anderen Seite?

Lief es doch nicht so gut? 

Ich schließe die Augen wieder und versinke noch einmal.

Nach einer Weile komme ich zu mir. Ich liege im Aufwachraum.

Man hatte mir vorab davon berichtet. Hier stranden sie alle nach dem Tiefschlaf. Es ist ein bißchen wie bei Inception. Da gibt es diese Szene von dem Schlaflabor, in dem regungslose Körper dösen und träumen. Und auch hier gibt es eine Überwachung.

Als sie bemerken, dass ich aufwache, schicken sie jemanden zu mir. Nein, ich will nix. Nein, ich brauch nix. Ich dreh mich nochmal um und taste mit meinen Händen auf dem Bauch. Alles, nur bitte kein künstlicher Darmausgang.

Ich spüre auf der rechten Seite des Bauchs mehrere große Pflaster. Aus einem scheint etwas rauszukommen. Es ist ein Schlauch. Warum habe ich verdammt nochmal einen Schlauch im Bauch? Alles dreht sich. Ich bin schwach. Schätzungsweise auf 7 Prozent Akku oder so.

Ich schaue zur Seite und stelle fest, dass ich an einem Tropf hänge. In meine Hände haben sie je einen Zugang gelegt. Um Schmerzmittel und weitere Flüssigkeiten wie NaCl bei Bedarf schnell zuführen zu können. Nach weiteren 2 oder 3 Stunden, wer weiß das schon, fährt mich ein weiterer Bettenschieberbursche durch die Flure des cleanen Krankenhauskomplexes, der mir vorkommt wie eine Raumfahrtstation auf dem Mond. Tatsächlich, es geht wieder auf Station. Ich habe es hinter mir. 

Was ich nicht weiß: Ich habe es eigentlich noch vor mir, denn die OP selbst ist nicht das Ding. Davon bekommst du nicht viel mit. Der absolute Hammer ist die Zeit danach, die Tage, und ganz besonders die Stunden nach der OP, wenn die harten Drogen nachlassen. Doch jetzt freue ich mich erstmal auf mein beschauliches 2-Bett-Zimmer.

Aber das Glück soll nicht lange halten, denn man verfrachtet mich aus dem kleinen, ruhigen Zimmer. Angeblich gibt es schwere Fälle gäbe, die man zusammenlegen müsse. Später erfahre ich hintenrum, dass ein älterer Herr das Zimmer für sich allein gebucht habe und dort nun seine Ruhe genießten würde. Was für eine priveligierte Nummer. Auch ich hatte mich mal in meiner ersten Krankenhauswoche nach den Preisen erkundigt, aber 65 € pro Nacht waren mir dann aber etwas zu fett.

Nun werde ich rausgeschoben und der Bettenschiebertyp steuert zielstrebig auf das Ende des Stationsflurs zu. Moment mal. Der fährt mich doch nicht etwa wieder, doch. Es geht wieder in mein altes 4-Bett-Zimmer. Es stinkt immernoch erbärmlich nach Fäkalien, Desinfektionsmittel und nach Kaffee. Was für ein bästialischer Horrormief. Und niemand lüftet. Ich greife verzweifelt nach meinem Minzöl und inhaliere es tief und langsam. Als meine Mitbewohner auf Zeit gerade einmal im Bad und auf dem Flur sind friere ich diesen Anblick mit einem Foto für die Ewigkeit ein.

15. Schmerzen auf einem anderen Level

Ich fühle mich, als ob ein Laster mich überfahren hätte. Und auch der Beatmungsschlauch, den sie vor der OP tief in meinen Hals gesteckt hatten, hat scherzhafte Spuren hinterlassen. So muss sich ein Schwertschlucker fühlen nach seinem ersten Mal. Ich spüre jeden Schnitt, den man in meinem Körper vorgenommen hat. Meine Mutter will mich besuchen, aber ich lehne dankend ab. Ich möchte hier einfach nur rumvegitieren bis ich es hinter mir habe.

Gott sei Dank hatte ich bisher nie intensiv mit Schmerzen zu tun. Habe eigentlich selten Kopfschmerzen, ganz selten Zahnschmerzen und nur alle paar Jahre Rückenschmerzen, aber nach dieser Darm-OP ist es anders. Das sind Schmerzen, die mich fertig machen. Und es sind ja nicht nur die 4 Stellen, an denen man “reingegangen” ist. Es ist eben auch der Darm selbst, von dem einfach mal 20 Centimeter rausgeschnitten wurden. Anschließend tackerte man die Enden mit Titanklammern, die ich für immer in mir haben werde, zusammen und fertig.

Es ist Tag 4 und ich darf immer noch nichts essen. Nur trinken. Ab morgen dann die sogenannte Suppe. Ich schaue in den Spiegel und bekomme einen Schreck. Ich sehe aus wie der Tod auf Latschen, habe natürlich auch extrem abgerissen. Ich will einfach nur irgendwo in die Sonne. 

Nach einer Woche kann ich nach Hause. In unsere neue Wohnung. Unsere Kinder stellen alles auf den Kopf und lachen. Meine Frau zeigt mir alles. Ich bin aber einfach nur hundemüde und fertig.

Die Narben wachsen langsam zu und die Zeit heilt alle Wunden. Doch dann schlägt meine Hausärztin mit einmal Alarm. Meine Entzündungswerte seien viel zu hoch, also wieder ins Krankenhaus. Dort müssen sie meine lange Schnittwunde am Unterbauch wieder öffnen, weil darunter alles stark entzündet sei. Ein junger Arzt meint es gut und quetscht mir das Wundwasser aus der geöffneten Narbe. Fuck.

Anschließend muss der Pflegedienst kommen. 4 Wochen lang jeden Tag. Wunde ausspülen und so weiter. Belastend. Aber immerhin das Ende der Strapazen.

16. Was wird danach anders?

Nach etwas mehr als 6 Wochen kann ich endlich wieder arbeiten. So lange war ich noch nie in meinem Arbeitsleben krank geschrieben. Zukünftig möchte ich etwas kürzer treten. Öfter Nein sagen. Mehr Ruhe, weniger Projekte. Mehr Schlaf, weniger Dates. Mehr Bewegung, besseres Essen. Vielleicht braucht es dafür manchmal eine Krise. Vielleicht muss die Platte mal springen, damit man einen neuen Song auflegt. 

Ich habe in den ersten beiden Monaten des Jahres 2023 viel reflektiert über die Art und Weise, wie ich lebe. Über Arbeit und Familie. Über meine Zukunftspläne. Was interessiert mich nur und worauf fokussiere ich wirklich? Was möchte ich bewirken? Wie kann ich mit meinen Stärken in dieser Welt gestalten? Diese Fragen werden mich weiter begleiten. Bis ich irgendwann alt und grau bin wie Winnie, der dem Tod den Stinkefinger zeigte und das Leben nun mit seiner Frau geniessen wird.

Carpe diem.

Alles wird gut.

Gabriel Rath

Ich bin Gabriel, Rostocker Jung`, verheirateter Vater von 3 kleinen Töchtern und kreativer Kopf mit einer Vorliebe für Digitale Kommunikation und New Work. Seit 2018 mache ich den Podcast "New Work Chat". Hier im Blog schreibe ich über mein Leben zwischen Kinderzimmer und Digital Workplace.

10 Antworten auf „Aus dem Nichts ins Krankenhaus. Wenn das Leben die Pausetaste drückt.

  1. Hallo Gabriel,
    schöner Artikel (soweit es bei dem Thema schön sein kann) der mal wieder einen guten Impuls zum Nachdenken setzt. Ich drücke die Daumen, dass deine Gesundheit weiter mitmacht und dass dir die Balance erhalten bleibt.

    Liebe Grüße,
    Christian

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  2. Super Beitrag! Ich bin Gott so dankbar, dass er all unsere Gebete erhört hat und Du diese schwere Zeit überstanden hast!

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  3. Hi Gabriel, trotz der Länge sehr kurzweilig. Ich weiß schon, warum ich Krankenhäuser nicht mag. Aber die immer wieder aufgeschobenen Vorsorge-Untersuchungen sollte ich vielleicht doch mal machen.
    Aber immerhin scheinst Du ja nach den Wochen wieder auf dem Posten zu sein. Hoffe es bleibt jetzt so….

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  4. Schön, dass du auf gutem Weg bist. Ich hatte vor ein paar Jahren auch diesen Moment durchlebt, nach dem nichts mehr ist oder je wieder sein wird, wie es war, und habe seitdem gelernt (lernen müssen), Gesundheit und Gegenwart zu schätzen.
    Danke für das Teilen deiner Erfahrungen. Es hat Freude gemacht, das zu lesen. Alles Gute weiterhin.

    Gefällt 1 Person

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